Der herzlose Pförtner

Vor Jahren, als Wien von einer festen Mauer und einem tiefen Wassergraben umgeben war, kam an einem kalten Herbstabend ein altes Weiblein zur Stadt. Das Tor war bereits geschlossen. Das Mutterl blieb eine Weile stehen, dann klopfte es mit dem Torhammer an die Pforte. Alsbald kam der Pförtner zum vergitterten Guckloch und sah nach, wer zu so später Stunde noch in die Stadt herein wollte.

Wien war von einer Stadtmauer umgeben - Domenico Cetto (Foto: Yelkrokoyade) commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0
Das alte Stubentor - BERMANN, Moriz (Scan: The British Library) commons.wikimedia.org, CC0 1.0
Reste der Stadtmauer beim Stubentor - Gugerell commons.wikimedia.org, CC0 1.0
Die Brücke über den Wienfluss beim Stubentor führte in die Landstraße - Jacob Hoefnagel (1609) / Claes Jansz Visscher (1640) commons.wikimedia.org, CC0 1.0

„Lasst mich hinein!", bat das alte Weiblein. „Ich habe mich verspätet, weil ich mehrmals rasten musste."

„Für gemeine Leute bleibt das Tor bis Sonnenaufgang geschlossen!", rief der Pförtner unfreundlich hinaus und schlug das Fenster zu.

Das Weiblein wollte nicht glauben, dass der Pförtner so herzlos sein und es hier stehen lassen könnte. Daher klopfte es nach einer Weile wieder an das Tor.

Hastig riss nun der Torwächter das Fenster auf und schrie: "Was willst du noch hier? Geh weiter! Ich kann das Tor nicht aufschließen, der Schlüssel hängt so hoch über meinem Kopf, dass ich ihn selbst mit ausgestreckter Hand nicht erreiche."

„Von nun an soll dir der Schlüssel immer hoch hängen, dass du ihn nie mehr erreichen kannst!" Nachdem die alte Frau dies gerufen hatte, drehte sie sich um und ging langsam vom Stadttor weg.

Es dauerte nicht lange, da ritt ein wohlhabender Bürger die staubige Straße heran. Vor dem Tor stieg er rasch vom Pferd und klopfte energisch um Einlass. Kaum hatte der Pförtner den Reiter durch das Guckloch gesehen, rief er dienstbeflissen hinaus: „Gleich komme ich, Herr!"

Er wollte nach dem Schlüssel greifen, sah ihn aber nicht. Da wurde ihm angst und bange. Rasch nahm er die Öllampe vom Tisch und leuchtete an die Wand hinauf. Zu seinem Schrecken saß dort eine große Spinne; sie hatte den Schlüssel umsponnen. Griff der Pförtner danach, kletterte die Spinne die Wand hinauf und zog den Schlüssel mit sich. Der Bürger vor dem Tor wurde bereits ungeduldig. „Wie lange soll ich noch warten?", rief er erbost zum offenen Fenster hinein. „Herr, ich erreiche den Schlüssel nicht! Habt noch eine Weile Geduld!", bat der Pförtner.

„Wollt ihr mich zum besten halten? Ich werde mich beim Rat der Stadt beschweren!" Hastig bestieg der Bürger sein Pferd und ritt zum nächsten Tor. Dort wurde er sogleich eingelassen. Indessen war der Pförtner auf den Tisch gestiegen, um die Spinne zu erschlagen. Aber immer war das Tier schneller als er. Endlich hatte er es in eine Zimmerecke gejagt. Auf der Tischkante stehend, wollte er eben zum Schlag ausholen. Da kippte der Tisch um, und der Pförtner fiel hinunter. Dabei verstauchte er sich ein Bein.

Einige Tage später wurde er ins Rathaus gerufen. Mühsam humpelte er in die Ratsstube. Als ihm die Beschwerde des Bürgers vorgehalten wurde, beteuerte der Pförtner: „Mich trifft keine Schuld, der Schlüssel hing zu hoch!"

Die Stadtherren glaubten aber, der Mann mache sich über sie lustig, und sie sprachen: „Du behauptest, dass dir der Schlüssel zu hoch hängt. Nun wollen wir dir den Brotkorb genauso hoch hängen. Von heute an bist du nicht mehr Pförtner, sondern hast mindere Dienste zu leisten."


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