Die Linde auf dem Stephansplatz

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Ein Lindenbaum - geneva_wirth www.flickr.com, CC BY-NC 2.0
Aus jener Zeit sind die Heidentürme und das Riesentor des Stephansdoms heute noch erhalten. - Petronas commons.wikimedia.org, CC0 1.0
Die Blüten einer Linde - Herbert Schauer Wiener Bildungsserver, Standardurheberrechtsschutz

Im Jahre 1144 erhielt der Baumeister Falkner den Auftrag, das Stephanskirchlein und das Pfarrerhaus zu vergrößern. Um mehr Baugrund zu schaffen musste auch der Wienerwald, der damals noch bis in die Stadt reichte, gefällt werden. Pfarrer Eberhard verfolgte die Umbaupläne mit großem Interesse, war aber nicht einverstanden, dass auch der Lindenbaum vor der Kirche gefällt werden musste. So bat der Pfarrer den Baumeister darum, dass er doch die Linde stehen lasse. Er mochte die Linde sehr. Sie war genau so alt wie Eberhard und er wollte nicht, dass sie früher sterben musste als er. Außerdem verbrachte er viele Stunden im Schatten des Baumes und wollte darauf nicht verzichten.

Der Baumeister änderte die Pläne für den Pfarrhof. Der Platz wurde sogar so eingeteilt, dass die Linde direkt vor dem Fenster des Schlafzimmers des Pfarrers stand. Der Pfarrer war überglücklich und sagte: „Die Linde und ich, wir sind gute Freunde, sie soll mir immer nahe sein.“ So kam es also, dass die Linde stehen blieb und direkt in des Pfarrers Fenster hineinschaute. Eberhard genoss es, dass er täglich das Vogelgezwitscher der in den Zweigen lebenden Tiere hören konnte. Auf dem kleinen Bänkchen rund um seinen Baum führte er mit vielen Menschen Gespräche über Gott und die Welt. Das blieb viele Jahre so.

Der Lindenbaum wurde immer größer und dichter, der Pfarrer wurde aber zusehends älter und schwächer. Wenn die Linde im Frühjahr erblühte, war auch der Pfarrer gesünder. Wurde es aber Herbst und die Linde verlor ihre Blätter dachte sich der Pfarrer: „Die Blätter sind die Tage meines Lebens. Wenn alle Blätter herabgefallen sind, werde ich tot sein. Und im Frühling wirst du wieder blühen, liebe Linde, und ich werde nichts mehr davon sehen.“ Mit diesen traurigen Gedanken ging er Abend für Abend ins Bett. Er wurde immer schwächer und konnte nur noch gehen, wenn er gestützt wurde. Tag für Tag ließ er sich zu seinem Fenster führen, um die Linde zu beobachten. Sein größter Wunsch war es, die Linde noch einmal blühen zu sehen und ihren süßen Duft einzuatmen, bevor er starb.

Der Herbst verging. Die Linde war längst kahl, als der Winter kam. Dem Pfarrer ging es wirklich schon sehr schlecht und er fühlte, dass er sterben müsse. Er konnte sich nicht mehr in seinem Bette aufsetzen und so bat er seinen Kirchendiener: „Ich bitte dich, richte mich auf und mach das Fenster auf, damit ich noch einmal meine Linde sehen und riechen kann. Der helfende Mann war sehr besorgt, denn er hatte Angst, dass die kalte Winterluft den Pfarrer umbringen würde. Aber was sahen die beiden Männer da? Mitten im Winter stand der Lindenbaum in voller Blüte. Es roch süßlich im ganzen Raum und ein warmer Wind wehte ins Schlafzimmer. Lange sah Pfarrer Eberhard aus dem Fenster, lächelte glücklich und schlief für immer ein.

Der Kirchendiener fürchtete sich, denn er hatte noch nie einen blühenden Baum im Winter gesehen. Er traute sich auch nicht den Toten anzugreifen und trat einen Schritt zurück. Da beobachtete er, dass der Wind die Lindenblüten beim Fenster hineinwehte und den Toten zudeckten. Das war der letzte Gruß der Linde an den Pfarrer Eberhard, die gleich darauf kahl war, wie jeder andere Baum im Winter.

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